Der Teil und das Ganze

Eine kulturphilosophische Betrachtung

Es war wie eine Eingebung, über das Thema zu schreiben. Auslöser war, dass mich das Thema in der Nähe zu den heutigen Veränderungen der digitalen Welt beschäftigte. Als γέρος γερός (wer Griechisch spricht, weiß, was das heißt) fühlte ich mich gereizt, darüber nachzudenken.

Der Name digital ist abgeleitet vom Lateinischen digitus, das ist der Finger. Der Finger allein, auch in der Mehrzahl, bewirkt nichts, vielleicht, noch eine Richtung anzuzeigen. Die digitale Sprache besteht nur aus zwei Fingern, positiv und negativ, oder mathematisch aus 0 und 1. Da frage ich mich doch, wo bleibt dann das Ganze.

Das Ganze, wenn wir im Lateinischen bleiben, wäre palma, die ganze Hand. Die Hand, wenn wir sie wie die Finger symbolisch nehmen, ist nun etwas, was wir gar nicht brauchen. Oder doch?

In meiner Bibliothek fand ich zu meinem Erstaunen zwei Bücher mit dem Titel <Der Teil und das Ganze.> Das erste Buch ist wohl das berühmtere: Der Autor ist Werner Heisenberg. Der Untertitel ist <Gespräche im Umkreis der Atomphysik>. Heisenberg beschreibt in dem Buch seine Gespräche mit Albert Einstein, Max Planck, Carl Friedrich von Weizsäcker, Schrödinger und anderen aus der Welt der Atomphysik. Z.B. <daß der merkwürdige Dualismus zwischen Wellenvorstellung und Teilchenvorstellung eine rationale Erklärung der Lichterscheinungen einstweilen unmöglich machte>.  

Das zweite Buch mit dem Titel <Den Horizont erweitern> enthält einen Text von Hans Peter Dürr mit dem Titel <Der Teil und das Ganze>. Er übernimmt den Titel von Heisenberg, dessen Inhalt er mit seinen Gedanken dazu erweitert. Er beruft sich darin auch auf Max Planck, der die <Quantenphysik> aus der Taufe hob.

Ja, jetzt bin ich sprachlos ob dieser großen Wissenschaftler, die mein Thema so gewaltig beschrieben haben. Ich gebe zu, ich war erschrocken. Aber was war mit meiner Eingebung, die das oben beschriebene nicht kannte.

Ich hatte mir vorgestellt, die Philosophie Platons mit ebenjener von Ludwig Wittgenstein zu vergleichen. Das ist natürlich ein großes Feld, aber ich als philosophischer Laie und Wittgenstein-Verehrer, kann natürlich ohne Hohn und Verachtung, schreiben, was mir eben gerade so dazu einfällt.

Zuerst Platon. Er stammt aus einem vornehmen Athener Geschlecht und reiste viel in Ägypten, Afrika und Unteritalien. In seinen Schriften ist Sokrates sein Pseudonym.

Die platonische Welt ist geprägt von einer Philosophie des Fragens.  Was ist Wahrheit, was ist Tugend, was ist …
dabei geht es ihm um das Ganze, wie er es beschreibt im Politikos:

„Sobald die Welt sich in die Bahn für das jetzige Werden hineindrehte, stand zuerst wiederum das Alte still, und Neues, dem damaligen Entgegengesetztes brachte sie  demnächst hervor und alles veränderte sich, den Zustand des Ganzen nachahmend und ihm folgend. Ebenso auch, was zur Empfängnis, Geburt und Ernährung gehört, folgte als Nachbildung dem Ganzen notwendig nach.“

Wir können also sagen, im Großen und Ganzen schreibt Platon über das Ganze.

Wittgenstein, ein studierter Ingenieur aus reicher Familie, legt sich mit den Philosophen seiner Zeit an. Alles, was er im Hörsaal über das, was ist, hört, ist ihm zu undeutlich. Er will Klarheit, die Sprache muss erst klarer definiert werden.

Was mich begeistert hat (als Architekt und Egon Eiermann-Schüler) war das Haus, das er für seine Schwester in Wien geplant hat. Da ist Klarheit bis im kleinsten Detail, z.B. die Beschläge für Fenster und Türen.

Man könnte fragen, was hat das mit Philosophie zu tun? Ja, da kann ich sagen, der Teil und das Ganze muss zusammenstimmen.

Das könnte auch einfacher heißen das Teil und das Ganze. Am Anfang zweifelte ich, ob ich das oder der Teil denken wollte. <Das> wäre zu banal, fand ich. Also der Teil und das Ganze. Die beiden haben das gleiche Gewicht. Nach dieser Vorrede steige ich ein.

Was erleben wir z.Z. in der digitalen Welt? Alle Themen werden zerhackt in kleine Teile, um sie dann bei Gebrauch nach Bedarf zusammen zu setzen. Wenn ich jetzt den Begriff <Wahrheit> eingebe, was ist das? erhalte ich einige Aspekte, unter anderem diese:

Es gibt eine Korespondenztheorie, die Aristoteles als erster in seiner Metaphysik formulierte: <zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nichtseiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nichtseiende sei nicht, ist wahr.   Wer also ein Sein oder Nicht-sein prädiziert, muss Wahres oder Falsches aussprechen.> Hier geht es um Teile, das Ganze ist, was ich ausspreche.

,Okay, das ist leicht verdaulich. Dann versuche ich es mal selber. Was ist Wahrheit? Zuerst einmal ist wahr, was ich wahrnehme. Das ist ein aktiver Prozess. Aus vielem, was mir begegnet, halte ich dies und jenes für wahr. Das ist ein individueller Prozess, was ich für wahr halte, ist meine eigene Entscheidung. Es gibt dann aber auch Wahrheiten, die am Weg stehen wie ein Schild mit der Aufschrift <Stop>. Mit dieser Eigenschaft (das Wort wortwörtlich nehmend) kann ich mich entscheiden, folge ich dem oder nicht. Das erinnert mich an ein Beispiel von Wittgenstein, in dem eine Unfallsituation von dem Gericht im Modell nachgebaut wurde. Die Beschreibung mit Worten genügte dem Gericht nicht. Das bestätigte Wittgenstein darin, für solche Fälle müsse es ein Wortverzeichnis geben, in dem alle Vorgänge bei einem Unfall beschrieben sind. Nur so könne ein Gericht wahrheitsgemäß entscheiden. Das erinnert an Kochbücher, die nur Zutaten, oder aber auch den Kochprozess beschreiben. Zutaten sind Teile, die dem Koch oder der Köchin bekannt sind. Gekocht werden sie zum Ganzen.

Gehen wir nun aus der Küche in die tägliche Alltagswelt, dann befinden wir uns in einer Umgebung von vielen Umständen, die wir als Teilaspekte unserer Entscheidungen „wahr“nehmen. Sind diese Teilaspekte, die auf meine Entscheidungen warten, wahr oder vielleicht auch Täuschungen, oder sogar Hindernisse, die nicht von mir stammen, zu überwinden. Wir haben plötzlich zu wählen, ist das für mich wahr, und damit überwindbar, oder, ist da ein Quälgeist in meiner Umgebung, der meine geordnete Welt zerstören will. Kann ich das schon als Unwahrheit empfinden, nein, für ein anderes Individuum ist das die Wahrheit. Das Wahre ist also nicht absolut. Dort, wo Leben ist, ist Wahrheit ein Chamäleon? Das mag im Alltagsleben so sein, dort gilt das Pragmatische (von Gr πράγμα, übersetzt abstrakt die Handlung, konkret die Tat oder ein Plan, oder auch die Schwierigkeit, eine Sache, oder auch das Vermögen, ob man etwas kann.) Für ein Individuum ist Wahrheit eine Wiese voller Blumen und Kräuter (Brennnesseln sind auch dabei). Sind das alles Teile für eine Digitalisierung?

Gibt es auch absolute Wahrheiten? Da wird es hart. Ist eine Religion eine absolute Wahrheit?   Kann ich eine solche ohne Zweifel als Wahrheit wahrnehmen? Ich soll es, und wenn ich daran zweifele, komme ich nach meinem Tod nicht in den Himmel. Ja, was ist denn der Himmel? Meine Wahrnehmung des Himmels ist, da gibt es keinen Halt. Da soll es einen Gott geben, der darüber entscheidet, ob ich zu Lebzeiten gehorsam seine Gesetze befolgt habe. Hier geht es also um ein Ganzes. Ein Ganzes, das ich nach meinem Tod je nach meiner Gesetzestreue als Belohnung erhalte. Das Schöne daran ist, dass ich zu Lebzeiten schon sehen kann, was mir in Bildern vom Himmel gezeigt wird. Auch ein Ganzes. Dazu kommt noch, dass mir versprochen wird, dass meine Seele wiedergeboren wird. Meine Seele ist auch ein Ganzes. Aber zeigen die Bilder Wahres? Zeigen sie eine absolute Wahrheit? Unser Zeitalter verabschiedet sich mehr und mehr von solchen „Wahrheiten“. Was aber bleibt?

Es sind Teile, die alla Wittgenstein definiert werden können. Das menschliche Hirn braucht zum Verstehen neuer Wahrheiten Maschinen, die mit künstlicher Intelligenz gefüttert werden. In der Übergangszeit sagte man, dazu fehlt die Masse an Speicherelementen. Wir erleben jetzt, was Wittgenstein gewiss nicht vorhersehen konnte: Die Wahrheit steht in immer größer werdenden Maschinen. Und wer die Maschinen hat, ist König. Weisheit ist vorbei. Und damit auch die Weisheitsliebe, sprich Philosophie. Der Teil verdrängt das Ganze.

Diesen Essay widme ich meinem Sohn Alexander Ulrich, Gründer von Contractor Consulting, die  mit  IT-Experten die Digitalisierung in Deutschland vorantreiben.

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