Auf einer Blumenwiese in Sidon, einem Ort an der levantinischen Mittelmeerküste im Land Phönizien, spielt ausgelassen eine Prinzessin mit ihren Freundinnen. Da nähert sich den Jungfrauen ein ungewöhnlich nach Moschus riechender, bunter Stier. Die Prinzessin schaut ihm neugierig entgegen. Er knickt mit den Vorderbeinen vor ihr ein, sodass sie ihm in die Augen schauen kann. Übermütig steigt sie auf seinen Rücken. Der Stier springt auf und stürzt sich mitsamt seiner Reiterin ins Meer.
Es ist Zeus in Stiergestalt, der die Prinzessin schwimmend nach Kreta entführt. Im Hafen von Kommós (das bedeutet übersetzt „Sich an die Brust schlagen“) entsteigt er dem Meer, um sich gleich darauf in einen Adler zu verwandeln, der die Prinzessin in eine Astgabel eines großen Baumes hebt, um sie dort zu schwängern. Sie gebiert nach neun Monaten drei Söhne: Minos, Rhadamanthys und Sarpedon. Ihr Name ist Ευρώπη, zu Deutsch Europa. Der griechische Name besteht aus zwei Worten, ευρύς zu Deutsch breit, weit ausgedehnt, und όψις (Wurzel 0π), zu Deutsch das Auge, mit der weiblichen Endung η, zu Deutsch a, also das weit ausgedehnte Auge. Dies ist ein Synonym für den Mond. Europa, die Mondin. Soweit der Mythos, den keiner leugnet. Was aber steckt dahinter?
In den ersten 200 Jahren des 1. Jahrhunderts UZR beherrschten die östlichen Seefahrer aus den Handelshafenstädten der mittleren Levante den Seehandel rundum an den Küsten des Mittelmeers. Es waren hauptsächlich die Orte Sidon, Sarepta und Tyros, die durch den Seehandel große Gewinne machten und sich dadurch selber zu Fürstentümern entwickelten. Ihre Kinder gaben sich als Prinzen und Prinzessinnen aus. Einen Eindruck davon können wir in der Bibel des Alten Testaments bei Jesaja, Kapitel 23, lesen: „Die Kaufleute von Sidon, die durchs Meer zogen, fülleten sich. Und was für Früchte am Sihor und Getreide am Wasser wuchs, brachte man zu ihnen hinein durch große Wasser. Wer hätte das gedacht, daß es Tyrus, der Krone, so gehen sollte; so doch ihre Kaufleute Fürsten sind, und ihre Krämer die Herrlichsten im Lande?“
Sie brauchten keinen Gott, den Jesaja ihnen prophezeite, sie hatten ihre Götter. Astarte war eine der drei Göttinnen, die sie verehrten. Wenn es um Göttinnen geht in alter Zeit, finden wir häufig drei Göttinnen. Warum?
In frühester Zeit der Menschwerdung gab es für Frauen am Himmel eine Erscheinung, die sie in ihrem Körper spürten, den Mond. Eine Erscheinung, die aus dem Nichts wuchs, dann voll erschien, um dann wieder in gleicher Art, wie sie kam, verschwand. Drei Phasen, die sich stetig wiederholten. Wir können daher vermuten, dass Frauen die ersten waren, die etwas Metaphysisches erlebten, was sie in Ritualen feierten. Herrschsüchtige Männer haben dafür gesorgt, dass der Mond nicht mehr ein Femininum wie in vielen Sprachen, sondern im Deutschen ein Maskulinum ist. Die Sonne, die durch Apoll maskulin ist, durfte dann feminin sein.
Zurück zur Astarte, Athartu phönizisch und Αστάρτη griechisch. Sie ist die Göttin der erotischen Liebe und der Fruchtbarkeit. Sie ist eine Mondgöttin und damit ein Symbol der Weiblichkeit. Als Zeichen ihrer Bedeutung trug sie eine Mondsichel in ihrer Krone. Sie war die wichtigste Göttin in Tyros und wohl auch in den anderen Orten der Levante. Und nun kommt etwas Erstaunliches: Astarte war auch die Göttin der Seefahrer.
Die Seefahrer dieser Zeit fuhren zur Orientierung wo möglich in Küstennähe. Die levantinischen Seefahrer nutzten auf der nördlichen Seite des Mittelmeers einen Kurs entlang der Insel Zypern und dann die Südseite von Kreta, wo sie im Hafen von Kommós eine Niederlassung erichtet hatten.
Griechische Archäologen hatten in neuer Zeit nach diesem Hafen gesucht. Für sie war klar, dass er in der Nähe von Kokinos Pirgos am nördlichen Ende des langen Strandes von Kommós liegen müsse. Sie fanden dort nichts.
Anfang der siebziger Jahre hat Friedhelm Will, ein deutscher Hippie und Hobbyarchäologe, von seinem Baumhaus in der Nähe von Matala Unregelmäßigkeiten im Boden bemerkt. Er grub dort und fand altes Gemäuer. Er besuchte die zuständigen griechischen Archäologen, die ihn wegen unerlaubten Grabens vier Jahre einsperren ließen. Sie hatten verstanden, dass dieser Ort der Hafen von Kommós sein muss. Sie verkündeten in der ganzen Welt, sie hätten endlich den Ort des Hafens von Festos, gr Φαιστός, gefunden.
Wie üblich, wurde die Ausgrabung bei allen möglichen Archäologischen Instituten angeboten. Kanadische Archäologen haben seit 1976 bis heute einen Ort und die Hafengebäude von Kommós freigelegt. Was für unser Thema von Bedeutung ist: Sie fanden neben einem Rundbau einen großen Raum mit drei schlichten, rechteckigen Pfeilern auf einem großen Steinblock. Die Ausgräber vermuten, dass hier phönizische Händler und Seefahrer an einem ihrer Handelsrouten ihren Göttern einen Tempel errichtet haben. Ja, das ist richtig. Nicht jedoch für ihre Götter, sondern für die Göttin der Seefahrer, ASTARTE.
Um 1500 vor UZR konkurrierten orientalische mit phönizischen Seefahrern um Handelsniederlassungen an den Küsten des Mittelmeeres. Die Ausgrabungen von Kommós unter der Leitung der kanadischen Archäologen Joseph Winterbothams Shaw und Maria Coutroubaki Shaw, die den Raum mit den drei Pfeilern schon als Tempel bezeichneten, deutet darauf hin, dass Kommós kein Hafen von Festos, sondern eine Handelsniederlassung der Phönizier war. Gab es eine Verbindung mit Agia Triada?, griechisch Άγια τριάδα, übersetzt heilige Dreizahl, man könnte auch übersetzen die heilige Trinität (bitte nicht weiterdenken). Lange schon suchen Archäologen nach der Bedeutung dieses „Palastes“, wie er genannt wird. Er wird auch die Schatzkammer von Festós genannt. Dort fand man u.a. auch ein umfangreiches Archiv von „Linear A“-Texten. In Kreta und in den Häfen, die sie kontrollierten, stellten sich die Seeleute unter den Schutz ihrer eigenen Soldaten. In dem jetzt ausgegrabenen Hafen von Kommós wäre dafür im nördlichen Teil der Ausgrabung genügend Platz. Sollte für eine mitgereiste Prinzessin aus Sidon mit dem Namen Ευρόπη dort auch eine Unterkunft eingerichtet worden sein? Nein, ich vermute, dass die Prinzessin nicht bei den Soldaten hauste. Sie, als Prinzessin in der damaligen Hochschätzung von Frauen, als Abgesandte von Sidon nach Kommos, residierte wohl kaum bei den Soldaten. Sie ließ sich oberhalb vom Hafen einen Palast bauen, in dem auch, wie die Funde von Linear-A Texten beweisen, unter ihrer Kontrolle der Handel mit sidonischen Waren verwaltet wurde. Der noch erhaltene Name αγια τριαδα kann als Beweis meiner These gelten. Die drei Göttinen halfen ihr, wie in Sidon, bei ihrer Machtausübung.
Was wurde denn aus ihren drei Söhnen Minos, Rhadamanthis und Sarpedon? Es lohnt sich, diese Frage weiter zu verfolgen.
Wie der Name Europa sich wie ein Lauffeuer nach Norden in immer größeren Bereichen eine Namenspatenschaft errungen hat, bleibt für den Autor ein bisher ungelöstes Rätsel. Fest steht, dass eine phönizische Prinzessin mit ihrem Mondnamen Ευρόπη von Kreta aus nach und nach einen ganzen Erdteil beglückt: EUROPA.
Quellen: siehe Bibliographie
Nachtrag zur Linear-A Schrift.
Um 2000 v.UZR gab es eine hochentwickelte ägyptische hieroglyphische Schrift mit 96 Silbenzeichen und 32 Ideogrammen. Noch während der Altpalastzeit wurde sie von einer weiter entwickelten Form von Lautwerten mit ca. 70 linearen Zeichen statt Bildern verdrängt. Sie wird als Linear A-Schrift bezeichnet. Drum sagt man auch, die erste Schrift mit Buchstaben kam aus Phönizien. Sie ist bisher noch nicht entziffert. Die Schriften in Agia Triada warten auf Schriftspezialisten.