Zwei Worte – zumal (im hessichen Dialekt) gleich aussprechbar – zwei Welten?
Der Begriff, die Seele betreffend, ist Grundaspekt für beide.
Selig: den Körper überwunden habend, im Jenseitigen seiend, aber auch dort noch besonders herausgehoben aus Diesseitigem, wenn jemand „selig“ gesprochen wurde, erlöst im Himmelreich, von allem Irdischen befreit.
Seelisch: antipodisch zum Körperlichen, das Ideelle im Leben, das ‚Feinstoffliche‘, das was das körperliche Sein charakterisiert.
So der Sprachgebrauch.
Der frühe Mensch entwickelt mit zunehmender Anpassung an Daseinserhaltung eine Vorstellung von Vorsorge, Denken an Morgen. Ackerbau betreibt nur der, der die Ernte vorausdenkt. Und hat er geerntet, speichert er in Gedanken an den kommenden Winter, den er voraussieht, Nahrung.
Der Übergang vom nichtbewussten Wollen (Instinkt, reflektorisches Verhalten) zum bewussten Wollen (vernünftiges Handeln) ist fließend. Fressen wir uns nicht im Herbst einen Winterspeck an, den wir in der Fastenzeit wieder loswerden wollen ohne viel darüber nachzudenken? Aber das Bewusstsein ist gewachsen und wächst in Abstraktionen hinein, die wir mit Kausalgesetzen, Logik, Mathematik, Philosophie, Esoterik bezeichnen.
Das Denken an Morgen und die damit verbundene Beobachtung der Naturvorgänge schafft einen Nebeneffekt: Die Beobachtung des Todes. Entstand dadurch eine Todesfurcht? Wir wissen es nicht. Wir wissen, dass Begräbnisriten entstanden. Aus dem Dunkel der Evolution wird eine Spezies sichtbar, die sich nicht mehr beim Herannahen des Todes verkriecht und unbeobachtet verendet (wie die Tiere), sondern die in der Gemeinschaft bleibt und sich von den Hinterbliebenen begraben lässt.
Die Ähnlichkeit mit dem Eingraben eines Samenkorns ist evident. Könnte nicht die (unbestimmte) Hoffnung dahinter stecken, dass der Tote neu geboren wird wie eine Pflanze aus dem Samen? Ein abgestorbenes Holz einzugraben, das ‚wussten‘ wohl schon auch unsere Ahnen, bewirkt keine neue Pflanze. Es muss schon noch Leben im Reis sein. Wenn also ein Leichnam in der Hoffnung auf ein neues Leben vergraben wurde, musste in irgendeiner Form noch Leben darin sein. Die Erinnerung an den Toten ‚lebte‘ ja auch noch in den Hinterbliebenen. Die Erinnerung: das ist das Besondere, was diesen Toten auszeichnete, das Wesenhafte an ihm. Das konnte einen Namen erhalten: Seele.
Der ursprüngliche Sinn des Wortes erhellt aus der etymologischen Quelle: salig, saalig = hallig. Die in Höhlen bestatteten Toten wurden höhlig (die Hölle ist nicht fern), salig. Ihre Stimme wurde zum Echo ihrer selbst, die unheimliche Erfahrung aus der Höhle: Das Urwort ‚cal‘ steckt darin, das alles hohle bezeichnet: Schall, Höhle, Halle, Saal usw.. Dieses Echo meint alles, was wir als typischen Charakter bezeichnen: der von Angst Gebeugte, der Treue, die Sanftmütige, der Mächtige, die Hingebungsvolle, die heilig Abgehobene, der Schwermütige, der Luftikus, der Kämpferische, die ewig Leidende, der Spielerische, die Krämerseele, der Schauspieler, die Verführerin, der Aufschneider, der Schwätzer, die tragische Person, der Wichtigtuer, die Hexe, die Hetäre, die Gouvernante, der Aufrichtige, die …, der …
Jede dieser Seelen ist geprägt. Von was? „Vom Wiedererinnern an früher Wahrgenommenes“ sagt Platon durch Sokrates im Phaidon . „Früher“ ist präexistentiell gemeint, in einem Leben vor dem Leben. Platon baut auf auf der Tradition des seelischen Samenkorns. Diese damals schon 10 – 20 tausend Jahre alte Erfahrung mit Begräbnisriten ist ihm Axiom, Grundlage für den Beweis der Unsterblichkeit der Seele (Hadessage). Zur Bekräftigung schließt er aus der Analogie von Naturkreisläufen (Schieflage der Erde bei Umkreisung der Sonne) auf einen naturgesetzlichen Rhythmus von Werden und Vergehen. ‚Stirb um zu Werden‘, dieses eleusinische Kredo beweist für ihn zusätzlich die Unsterblichkeit der Seele. Die Seele selbst als Begriff und Konstrukt ist nicht in Frage gestellt. Sie ist Teil alter überlieferter Grundwahrheiten. Sie wird als Gegensatz zum körperlichen Sein aufgefasst und höher bewertet: Die Seele (ψυχή) herrscht über den Körper. Die Rangordnung bedeutet, das Körperliche ist Urmaterie, die durch die Seele befruchtet, vergeistigt, ‚beseelt‘ wird. Das eigentlich Wertvolle ist die Seele, der Körper ist verachtenswert, hinfällig, der Verwesung preisgegeben. Die Seele dagegen ist ewig, unsterblich, wertvoll.
Die Todesfurcht als Motiv ist gegenwärtig. Der, der nicht den Tot fürchtet, gilt gar als Held, als Heiland, als Heiliger; aber die Menschen sind keine Helden, Heilande, Heilige, sie sind Todesfürchtige. Und solange die Todesfurcht herrscht, hilft eine Seele als Brücke zu neuem Leben. Fünftausend Jahre menschlicher Geschichte sind fünftausend Jahre Kampf um die Erhaltung der Seele, des ‚ewigen‘ Lebens. Das größte Scenario, das Menschen veranstalten, befasst sich seit undenklicher Zeit mit der Unsterblichkeit der Seele. Religionen über Religionen, Philosophien, Theosophien, Glaubenskriege, Kulturen der Grabpflege (pompe funèbre), der Seelenverehrung, Gottesdienste, Heiligenanrufung, Machtkämpfe im Zeichen der Götter, Geniekult, Gottessuche, Hexenwahn, Eremitagen, Kasteiungen, Pilgerfahrten, Totentempel …, eine unendliche Geschichte zur Rettung der unsterblichen Seele, damit sie selig werde.
Es ist nur konsequent, dass nur der Mensch eine Seele habe: denn das unterscheidet ihn vom Tier, dass dieses nicht an ein Leben nach dem Tode denkt, es braucht keine Seele.
Empörter Aufschrei:“mein Hund hat eine Seele, so wie er mich anschaut, er ist eine treue Seele!“ Wohlmöglich ist er auch ein scharfer Hund, eine Hirtenhund, gewiss ein hungriger, schläfriger, wachsamer, verspielter, folgsamer, bissiger, launischer, tückischer, hinterlistiger, von allen Temperamenten lebenden Verhaltens geprägter Hund. Er hat seelisches Empfinden und Befinden. Aber, mein Hund „Gott hab‘ ihn selig!“? Nein, zu einer Hundereligion haben wir es noch nicht gebracht. Oder hat jemand von einem Hund gehört, der sein ganzes Leben, die unschuldige Kindheit ausgenommen, gute Werke tat um in den Hundehimmel zu kommen?
Welche Einengung muss sich das Seelische gefallen lassen, um selig zu werden.
Zwei Welten, eine dies- und eine jenseitige, vereint im verwirrenden Begriff der Seele.
Ein geflochtenes Seil windet sich um eine ‚Seele‘, einen roten Faden, der im Kern des Seiles liegt. Er gibt die Richtung an. Lassen wir die Todesfurcht einmal beiseite und stellen uns vor, wir seien wie ein Seil um eine ‚Seele‘ gewunden, dann sind wir beim γνώτι σ αυτόν des delphischen Orakels. Wären wir in der Lage, unser Strickmuster, unsere besondere ‚Seele‘ zu erkennen und zu akzeptieren, ihr zu folgen wie die Windungen eines gut geflochtenen Seils, dann wären wir vielleicht schon im Hiesigen selig (und überließen die Todesfurcht den Priestern).
Welche Aufgabe für die Psychotherapie [aus gr. θεραπεύω την ψυχήν = die Seele sorgfältig ausbilden]: Hilfestellung, Geburtshelfer zu sein für das Erkennen des eigenen Bestimmtseins, die Befindlichkeit als Gestimmtsein nicht als Kern zu deuten, sondern den Charakter freizulegen, das Geflecht des Tuns mit allen Licht- und Schattenseiten um den seelischen Kern zu ermutigen, zu dem einen Ziel, selig zu sein.
Geschrieben im Frühjahr 1994 auf Kreta