In christlicher Tradition haben wir uns an eine Dreiteilung unseres menschlichen Seins gewöhnt: Leib, Seele und Geist (σώμα, ψυχή, πνεύμα). Der Leib ist nichtig und stirbt. Was davon bleibt, ist bis zum Jüngsten Gericht die unsterbliche Seele. Und der Geist erglühe in Leidenschaft („seid brünstig im Geiste“ Römer 12.11). Die Trinität ist ein Relikt der frühesten Fruchtbarkeitsreligionen aus der Steinzeit, die die drei Mondphasen, zunehmend, voll und abnehmend, als allumfassende Rhythmen des Werdens und Vergehens nicht nur im Monats- sondern auch im Jahres- und Lebenskreis empfunden und liturgisch überhöht haben.
Vorchristlich, genauer vorsokratisch, dachte der ionische Philosoph Heraklit nicht in religiösen Traditionen, wenn er über die Seele sinniert:
ψυχῆς πείρατα ἰὼν οὐκ ἂν ἐξεύροιο πᾶσαν ἐπιπορευόμενος ὁδόν· οὕτω βαθὺν λόγον ἔχει. Heraklit DK 22 B 45 [1](Der Seele Grenzen kannst du nicht entdecken gehen, auch wenn du jeden Weg begehst: So tief reicht ihr Urgrund).
Der hier mit ‚Urgrund‘ übersetzte griechische Begriff ‚Logos‘ enthält nach Heraklit alles, was im Innersten den gesamten Kosmos bewirkt. (Marion Giebel hat in ihrem Nachwort zur Übersetzung von Senecas de brevitate vitae Logos mit <Weltvernunft> übersetzt). Menschen stehen dem Logos verständnislos gegenüber:
τοῦ δὲ λόγου τοῦδ᾽ ἐόντος ἀεὶ ἀξύνετοι γίνονται ἄνθρωποι καὶ πρόσθεν ἢ ἀκοῦσαι καὶ ἀκούσαντες τὸ πρῶτον· γινομένων γὰρ πάντων κατὰ τὸν λόγον τόνδε ἀπείροισιν ἐοίκασι, πειρώμενοι καὶ ἐπέων καὶ ἔργων τοιούτων, ὁκοίων ἐγὼ διηγεῦμαι κατὰ φύσιν διαιρέων ἕκαστον καὶ φράζων ὅκως ἔχει· τοὺς δὲ ἄλλους ἀνθρώπους λανθάνει ὁκόσα ἐγερθέντες ποιοῦσιν, ὅκωσπερ ὁκόσα εὕδοντες ἐπιλανθάνονται. Heraklit DK 22 B 1 (Für diesen Logos aber, obgleich er ewig ist, gewinnen die Menschen kein Verständnis, weder ehe sie ihn vernommen noch sobald sie ihn vernommen. Alles geschieht nach diesem Logos, und doch gebärden sie sich wie Unerprobte, so oft sie es probieren mit solchen Worten und Werken, wie ich sie künde, ein jegliches nach seiner Natur zerlegend und deutend, wie es sich damit verhält.)
Logos wird von Heraklit als ein Urgesetz allen Seins, etwas, das sich nicht verändert, das objektiv und universal alles durchwirkt, was ist, beschrieben. Wir könnten heute sagen, Logos ist der Gegenstand aller Wissenschaft. Wobei die Wissenschaft sich ständig verändert, erweitert, auch irrt und neu erkennt, nicht jedoch der Logos, der in Allem waltet und unveränderlich ist. Daraus haben wir das logische Denken als eine allgemein gültige Denkform abgeleitet.
Im Deutschen tat sich schon Luther schwer, Λόγος am Anfang des Johannesevangeliums zu übersetzen:
(ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ Λόγος καὶ ὁ Λόγος ἦν πρὸς τὸν Θεὸν καὶ Θεὸς ἦν ὁ Λόγος ).[2]
„Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott.“
Wie viel leichter wäre es für uns Heutige, die Gleichsetzung Θεὸς ἦν ὁ Λόγος mit „Gott war der Logos“ zu übersetzen, den Logos-Begriff als ein Synonym Gottes zu denken.
Die subjektive und allgemeinere Bedeutung des Logos-Begriffs (von λέγω = lesen) in der Bedeutung von „Wort“, „Rede“, „Darlegung“, „Lehre“ ist bei dieser Textstelle sicher nicht angebracht. Hatte Luther Heraklit gelesen?
Im Deutschen haben wir ein ähnlich schillerndes Wort: Geist. Das Geistige setzt sich vom Körperlichen ab. Der Geist, der in Allem waltet, könnte einen ähnlichen Sinn wie Logos haben. Das in der griechischen Bibel hierfür gebrauchte Wort ist πνεύμα. Wörtlich übersetzt der Hauch, der Atem. Das wäre etwas, das wir heute mit Inspiration bezeichnen würden. Etwas, das in Leidenschaft erglühen könnte, wie im Römerbrief von Apostel Paulus gefordert. Etwas, unter dem wir durch den Fundamentalismus der monotheistischen Religionen heute weltweit zu leiden haben. Wir sehen, dieser Geist ist weit ab vom Logos des Heraklit. Nach ihm sitzt der Logos in der Tiefe der Seele. Aber auch der Geist beseelt die Seele. Ist die Seele das Zentralorgan des Lebens, wo sich Logos und Geist treffen? Verwirrter kann eine Frage nicht sein. Christentum und der Vorsokratiker Heraklit sind unvereinbar.
Versuchen wir eine andere Version der Seele zu erkennen. Heraklit sagte:
ἀθάνατοι θνητοί, θνητοὶ ἀθάνατοι. ζῶντες τὸν ἐκείνων θάνατον, τὸν δὲ ἐκείνων βίον τεθνεῶτες. Heraklit DK 22 B 62 (Unsterbliche sterblich, Sterbliche unsterblich: Sie leben den Tod jener, und das Leben jener leben sie.)
Wie können wir das verstehen?
Die unsterblichen Göttergestalten der homerisch denkenden Griechen repräsentierten Archetypen der menschlichen Erfahrungswelt. Als solche waren sie im Bewusstsein der Menschen unveränderlich und damit unsterblich. Die Götter waren ein unsterbliches Destillat aus menschlichem, sterblichen Leben. Und sie wetteiferten miteinander, wen und wie sie Menschen sterben lassen wollten. Unsterbliche Schachspieler mit sterblichen Figuren. Dazu gehörte, die Menschen untereinander streiten zu lassen. Ohne Zwiespalt im Leben der Menschen ist das Spiel der Götter inhaltslos. Sie lebten auf, wenn es um Leben und Tod unter den Sterblichen ging. Hier zeigte sich die Macht der Götter in voller Tragödie. Hier spürten die Sterblichen das Leben der Götter.
Folgerichtig verübelt es Heraklit Homer, der schrieb: ὡς ἔρις ἔκ τε θεῶν καὶ ἀνθρώπων ἀπόλοιτο (Homer: Ilias, XIII 107) (Schwände doch jeder Zwiespalt unter Göttern und Menschen.) Heraklit (DK 22 A 22)
Die Sterblichen lebten nach dem Muster der Unsterblichen. Hier fanden sie Lebensbilder, an denen sie sich orientieren konnten. Die Auswahl war groß genug, dass für jeden ein passendes Muster dabei war. Und in der Mischung der Charaktere konnte sich jeder Sterbliche – bis auf den heutigen Tag – darin selber erkennen. Wir leben nach dem Bild der Unsterblichen. Und wenn nicht in der Seele, wo sollten wir sonst diese Bilder in uns tragen.
Wenn wir dereinst sterben, stirbt unser Leib. Aber die Bilder der Seele mit all unseren Eigenheiten bleiben (soweit wir denken können) wie die unsterblichen Götter im Olymp ewig und unsterblich: Sie leben den Tod der Sterblichen.
[1] Alle Heraklit-Zitate nach ‚Die Vorsokratiker‘ Reclam Verlag, Stuttgart 1987
[2] ‚Novum Testamentum Graece et Germanice‘, Württ. Bibelanstalt, Stuttgart, 14.Aufl. 1935