Gesprochen am 17. April 1999 anlässlich eines Zeitmahls, einer Installation und Zeremonie von Ute Lechner und Hans Thurner an zwölf mit unterschiedlichen Inhalten gefüllten Tischen im Kunstraum der Traunsteiner Klosterkirche.
Ute und Hans haben mich gebeten, ein Gebet zu sprechen wie es alter Brauch ist, bevor man ein Mahl einnimmt.
Ich nehme das zunächst einmal ganz wörtlich: Ich rufe die Bethen an, die in vorchristlicher Zeit unter vielfältigen Namen (die drei Ewigen, die drei Saligen) stets als drei göttliche Jungfrauen verehrt wurden. Ihre Trinität stand für den Rhythmus des Fruchtbaren: Werden, Fülle und Vergehen. Im Zeichen des zunehmenden, vollen und abnehmenden Mondes wurden sie in der monatlichen Zeitspanne genauso erlebt wie im weiblichen Zyklus.
Wenn wir uns jetzt ‚bethend‘ in göttlich verehrte Quellen der Fruchtbarkeit versenken, können wir schon im magischen Klang des Namens dieser drei Jungfrauen dem Leben nachspüren: Βήτα, der 2. Buchstabe im griechischen Alphabet, wird griechisch „vita“ ausgesprochen, so wie das lateinische Wort für Leben. Nicht genug, das B steht bildsymbolisch für zwei schwellende, weibliche Brüste. Unsere Urerfahrung des Genährt- und Beschütztwerdens bedeutet Leben.
Der Monat, lat. mensis, griech. μήνη, mit dem Sprachstamm men hat nun eine merkwürdige Verwandtschaft mit den lat. Begriffen mens = der dem Körper innewohnende Geist und mensa = der Tisch, die Tafel, aber auch das Essen, die Speise. Der von Hans und Ute gewählte Begriff MESAS für die Objekte, an denen wir jetzt sitzen dürfen, ist sprachverwandt das gleiche Wort und lässt uns die Nähe zur Heiligen Messe spüren. Der Tisch des Herrn ist ja der Altar, der Opfertisch. Das Verbindende in all dieser Verwandtschaft erhellt aus dem ebenfalls lat. mensura = die Messung, das Maß. Um das zu verstehen, müssen wir noch etwas tiefer in unsere Ursprache eintauchen.
Dentallaute sind Klänge, die mit Hilfe der Zähne erzeugt werden (lat. dens = der Zahn). Unser D, im Griech. Δ, Θ, im Engl. th, sind Laute, die ursprachlich mit Trennen, Teilen zu tun haben, das also, was unsere Zähne tun. Um Ihnen einen Eindruck von der Vielfalt der aus den Ur-Silben da und di hervorgegangenen Worte[1] zu geben, lassen wir einige wenige aus dem Sanskrit, aus dem Griechischen, Lateinischen, Englischen und (Alt-)Deutschen erklingen, deren Bedeutung, das werden Sie spüren, mit dem Ge-teilten und dem Zu-geteilten zu tun haben:
da di
dad Tat
dad tot
dáhati dies
dai-mo δαίμων
daps δαίς
datram δαίζω
dátram danam
datu δαίω
dáyate dati
devá devil
dévas deus
dhatri τιθήνη
dháyati θάω
dhe dho
dhegh Tag
dideti δέαται
Dike dico
do δίδωμι
donum δίνω
Tide θυμός
tid θήσθαι
time tide
Zeichen Ζεύς
zeigen δείκνυμι
zeigon δείγμα
zihan zeihen
zit Zeit
Um den Bogen zurück zu spannen nehmen wir ein Wort heraus: τιθήνη, das ist die Amme. Nun wissen Sie, woher unser Wort ‚Titten‘ kommt. Das dazugehörende Verb heißt griech. θάω = säugen, saugen, unsere Urerfahrung des Nährens und Genährtwerdens. Und nun lassen Sie sich erinnern, an das Sie sich nicht erinnern können, das aber tief in Ihnen liegt: Den Hunger spürend haben wir uns alle mit Schreien gemeldet, „es ist an der Zeit, ich will genährt werden“ und wenn es gut war, wurden wir ‚gestillt‘. Bis zum nächsten Hunger. Zeit erleben wir ursprünglich von Mahlzeit zu Mahlzeit. Sagen Sie einem kleinen Kind, „wir gehen in drei Stunden zur Oma“, werden Sie hören, „wie lange sind drei Stunden?“. Sagen Sie, „wir gehen nach dem Essen“, weiß das Kind Bescheid. Später im Arbeitsalltag sagen wir „Mahlzeit“ und gehen zu Tisch. Je nach Temperament immer zur gleichen Stunde oder erst, wenn der Magen sich meldet, eben wenn es Zeit ist.
Von Sophokles gibt es ein Fragment, in dem es heißt: „ήλθεν δε Θαίς θάλεια πρεσ-βίστη θεών“, „es erschien aber die üppige Dais, die älteste der Götter“. Im Ionischen, einem altgriechischen Dialekt, bedeuten die Worte δαίς, δαίτη, δαίτυς Anteil, Portion und auch in Portionen gegebenes Gastmahl, Opfermahl wie das lat. mensa. Und die Verben δαίω, δαίομαι, δαίζω = teilen, zerteilen, zerreißen. Unser Leben ist zerteilt in Maßeinheiten von Ma(h)l zu Ma(h)l. Und am Himmel sichtbar von mensis zu mensis, von Mond zu Mond. Wir sind ‚Mens-chen‘ im Erleben der Zeit.
Mein kurzes Gebet nach dieser Vorrede:
„Möge Δαίς Θάλεια erscheinen und uns mit unserem Urempfinden für das Mahl in der Zeit in diesem Zeitmahl verbinden“.
Fotos: Timo Thurner und Alex Heck
[1] Ausführlich bei Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart, Fünfte Anmerkung zur Etymologie, dtv, München 1973,